Jugend im Standby

23. August 2024

2,9 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss und 630.000 NEETs (= not in Education, Employment or Training; Jugendliche ohne Ausbildung, Arbeit, Schule oder Studium) stehen 70.000 unbesetzten Ausbildungsplätzen und rund 2 Millionen freien Stellen gegenüber. Diese Zahlen sind besonders alarmierend angesichts des demografischen Wandels, Fachkräftemangels und gesellschaftspolitischer Spaltungstendenzen. Die Joblinge-Studie „Jugend im Standby“ liefert wichtige Erkenntnisse über die Motivationen und Ängste dieser Jugendlichen und zeigt, wie Unternehmen potenzielle Nachwuchskräfte (wieder) für sich gewinnen können.

Bereits seit 2008 arbeitet Joblinge als etablierte Sozialorganisation am Übergang Schule-Beruf erfolgreich an wirksamen Antworten, um die Passungsprobleme im dualen Ausbildungssystem zu lösen. Über 16.000 Jugendliche wurden bisher auf ihrem Weg in die Ausbildung begleitet, dabei schaffen 75 % im Durchschnitt den Schritt zum unterschriebenen Ausbildungsvertrag. 2023 lag die Vermittlungsquote von Joblinge bei 80 % – und das in Zeiten, in denen die Negativzahlen junger Menschen ohne berufliche Bildung anstiegen.

Joblinge ist erfolgreich, weil die nachhaltige Vermittlung der jungen Menschen in Ausbildung in unserem Programm oberste Priorität hat. Was das bedeutet? Wir verbinden erlebbare Qualifizierung in der Praxis mit persönlicher, individueller Förderung ab Tag 1 und der konkreten Chance, sich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz aus eigener Kraft zu erarbeiten. Damit das möglich wird, bündelt Joblinge das Engagement und die Kompetenzen unterschiedlichster Akteure und Institutionen aus Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Unser oberstes Ziel? Jugendliche dabei zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Die Gretchenfrage: Wo sind die Jugendlichen hin?

Seit Beginn der Corona-Pandemie beklagen sowohl öffentliche Institutionen als auch Unternehmen, dass sie gerade junge Menschen immer schwieriger für berufliche Bildungsangebote erreichen können. War es zu Beginn unserer Arbeit noch die Herausforderung, Unternehmen zu finden, die unserer Zielgruppe eine Chance geben, sind die Unternehmen inzwischen dankbar, wenn wir für sie den Kontakt zu den jungen Menschen herstellen, die jedoch immer schwieriger zu erreichen sind. Woran liegt das?

Die Bertelsmann Stiftung bestätigt diesen Eindruck mit alarmierenden Zahlen: 630.000 junge Menschen sind derzeit weder in Schule, Ausbildung oder Beruf. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Frage: Wie können wir junge Menschen besser ansprechen und auf dem Weg in ihre berufliche Zukunft unterstützen? Und – noch entscheidender: Wie erreichen wir insbesondere diejenigen, die bislang unerreichbar sind?  Was müssen wir verändern und wer steckt hinter der Gruppe der vermeintlich schwer Erreichbaren?

Gesellschaft unter Druck: Was bewegt die Jugend?

Die Lebenswelt junger Menschen von heute unterscheidet sich grundlegend und fundamental von der Lebenswelt vorheriger Generationen. Weshalb? Die heutige Jugend wurde geprägt vom Erleben einer weltweiten Pandemie, von Klimawandel, Digitalisierung, der Infragestellung althergebrachter Werte und Ordnungen sowie neuer Entwicklungen wie Künstlicher Intelligenz. Ohne diese Jugend zu kennen und ihre Bedürfnisse, Wünsche und Hürden zu verstehen, entwickeln meist Erwachsene ihre Qualifizierungs- und Unterstützungsangebote. Dabei werden Annahmen über die sogenannte Generation Z getroffen, welche häufig zu pauschalisierenden Zuschreibungen oder Schubladendenken führen. Aber kann man es sich so einfach machen?

Die Forschungsorganisation „More in Common“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, hat bereits 2019 die Studie „Die andere deutsche Teilung“ veröffentlicht, in der sie der Frage nachgegangen ist, was in der Gesellschaft eigentlich vor sich geht. Sie haben dabei sechs Typen innerhalb der Gesellschaft identifiziert, die aufgrund ihrer Werte und Grundüberzeugungen jeweils eine eigene charakteristische Sichtweise auf die Gesellschaft haben. Aus der Dynamik der verschiedenen gesellschaftlichen Typen untereinander ergibt sich eine Dreiteilung der Gesellschaft. Besonders interessant: Das sogenannte unsichtbare Drittel. In der Zusammenfassung der Studie ist zu dieser Gruppe Folgendes zu lesen:

„Vor allem das unsichtbare Drittel (…) verdient Aufmerksamkeit, findet es doch in unserer Gesellschaft am wenigsten Halt. Dies ist ganz wortwörtlich zu verstehen: Während 30 % aller Befragten sagen, dass sie einsam sind, ist dieses Gefühl im unsichtbaren Drittel überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Zugleich ist der Glaube, das eigene Schicksal selbst in der Hand zu haben, bei den Pragmatischen und den Enttäuschten (Anm.: Das unsichtbare Drittel besteht aus den Pragmatischen und den Enttäuschten) besonders schwach. Doch nicht nur im persönlichen Leben fehlt es an Einbindung, auch das demokratische System gibt ihnen weniger Halt als anderen. Kategorien wie ‚Links‘ und ‚Rechts‘ geben dem unsichtbaren Drittel deutlich weniger Orientierung, und der Bezug zur Politik fällt insgesamt merklich schwächer aus.“

Studie „Jugend im Standby“ schließt Wissenslücke über NEETs

Der Gedanke, dass sich auch unsere junge, schwer zu erreichende Zielgruppe in diesem „unsichtbaren Drittel“ befindet, verstärkte sich zunehmend und war der Startschuss für die Arbeit an der ersten Joblinge-Studie. Ziel war es, im Rahmen einer qualitativen Befragung der NEETs ein  tiefenpsychologisches Verständnis für die Zielgruppe zu gewinnen und ihre Bedarfe, Wünsche und Ängste in Bezug auf berufliche Bildung in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zu bringen. Die Studie hilft Bildungsorganisationen, politischen Entscheider*innen, Unternehmen und öffentlichen Institutionen dabei, effektive Lösungen zu gestalten, um junge Menschen (wieder) für berufliche Bildung zu erreichen. Damit schließt die Studie „Jugend im Standby: Was braucht sie für den Schritt in eine Ausbildung?“ eine wichtige Lücke innerhalb des bislang dünnen Forschungsstands zu der Gruppe der NEETs.

Individuelle Unterstützung und Beziehungsarbeit gefragt

Die Ergebnisse der 38 qualitativen Interviews mit den befragten Jugendlichen zeichnen ein diverses Bild über die vieldiskutierte Gruppe, denn die Studie zeigt eindrücklich: NEETs bilden keine homogene Gruppe. Im Gegenteil: Die Studie identifiziert „sechs Typen der Vermeidung“. Diese Typen beschreiben verschiedene Strategien, die Jugendliche vom Weg in die berufliche Bildung abhalten. „Das war die schwierigste Rekrutierung meiner Rheingold-Karriere: Probanden sind mehrfach eingeladen worden und immer wieder nicht erschienen, mit und ohne Absage. Wie schwer es dann Unternehmen, öffentlichen Institutionen und anderen Akteuren am Übergang Schule-Beruf fallen muss, wird dabei besonders ersichtlich“, sagt Sabine Loch, Client Director des Rheingold Instituts, das die Studie durchführte.

Die Studie unterstreicht unsere Joblinge-Forderungen nach innovativen und zielgruppengerechten Rekrutierungsformaten und der Öffnung hin zu diverseren Hintergründen potenzieller Nachwuchskräfte auf Seiten der Unternehmen. Weshalb? Wie die Abbildung zeigt, ist die Gruppe der jugendlichen NEETs keine homogene Gruppe, sondern besteht aus verschiedenen heterogenen Gruppierungen, die unterschiedliche Motivationen und Bedürfnisse haben, wodurch eine differenzierte Ansprache notwendig wird.

Die Studie bestätigt eine weitere Erkenntnis, die wir in unserer Arbeit tagtäglich erleben: Die Optionen nach der Schulzeit erscheinen den Studienteilnehmer*innen unendlich – das löst Überforderung, Druck und Rückzugstendenzen aus. Sie wünschen sich vorstrukturierende Unterstützungsangebote im privaten und beruflichen Bereich, die zu ihnen passen und für sie relevant sind. Auch hier wird deutlich, dass Wirtschaft und öffentliche Institutionen früher und regelmäßiger den Kontakt zu jungen Menschen suchen müssen, um Angebote der beruflichen Bildung bei der Zielgruppe zu platzieren.

Gleichzeitig geben die Studienergebnisse wichtige Einblicke in die gesellschaftliche Verortung der Zielgruppe: Sie können mit der Idee einer Gesellschaft und gesellschaftlicher Teilhabe wenig anfangen. Vielmehr fühlen sie sich von der Gesellschaft abgekapselt, misstrauen öffentlichen Institutionen und ordnen sich – wenn überhaupt – kleineren sogenannten Social Bubbles zu. Es liegt in unserer Verantwortung, ihre Stimmen in den breiten gesellschaftlichen Diskurs zu tragen und so jungen Menschen wieder Vertrauen in Gesellschaft und ihre Akteur*innen zu geben.

Unternehmen müssen stärker Verantwortung übernehmen

Die Studie „Jugend im Standby“ bestätigt unsere operativen Joblinge-Erfahrungswerte aus über 15 Jahren der Zusammenarbeit mit jungen Menschen am Übergang Schule-Beruf: Vertrauen und Beziehungen sind die Basis wirksamer Ansätze. Wer Angebote für junge Menschen gestaltet, muss sich mit ihnen und ihrer Individualität und ihren Lebenswelten auseinandersetzen. Unternehmen müssen sich in Anbetracht der großen Aufgaben, die sich mit Blick auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt stellen, aktiver darum bemühen, potenzielle Nachwuchskräfte anzusprechen und zu aktivieren. Um dies zu tun, gilt es drei essenzielle Handlungsfelder zu betrachten, die sich aus unseren Studienergebnissen ableiten lassen:

1. Zielgruppenspezifische Rekrutierung und Diversität fördern
Eine klare Definition der Zielgruppe ist der erste Schritt. Unternehmen sollten genau wissen, welche Talente sie anziehen möchten und ihre Rekrutierungskanäle darauf ausrichten. Dabei ist es wichtig, Botschaften zu entwickeln, die verschiedene soziale Hintergründe und Biografien  ansprechen. Ein niedrigschwelliger Bewerbungsprozess kann Barrieren abbauen und jungen Menschen, die aufgrund formaler Kriterien schlechtere Chancen haben, den Einstieg erleichtern. So entstehen Touchpoints zu einer breiteren und vielfältigeren Gruppe potenzieller Nachwuchskräfte.

2. Zielgruppenspezifische Rekrutierung und Diversität fördern
Azubis sollten aktiv in die Ansprache ihrer Peer-Gruppen eingebunden werden. Dies fördert nicht nur Teilhabe, sondern auch die Authentizität der Botschaften. Unternehmen können systematische Begegnungsformate mit Jugendlichen im Betrieb schaffen. Unterstützungsangebote durch sozialpädagogisch geschultes Personal sowie die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Joblinge sind ebenfalls wichtige Bausteine. Diese Maßnahmen fördern ein inklusives Arbeitsumfeld, das die individuellen Bedürfnisse der Auszubildenden und potenziellen Nachwuchskräfte berücksichtigt.

3. Frühzeitige Berufsorientierung in Schulen
Eine stärkere Präsenz von Unternehmen in allen Schulformen ist unerlässlich. Berufsorientierungsangebote sollten so gestaltet sein, dass sie allen Jugendlichen frühzeitig den Kontakt zur Arbeitswelt ermöglichen. Formate wie CV-Checks, Azubi-Talks oder Speeddating-Veranstaltungen bieten hierbei wertvolle Einblicke und praktische Unterstützung. Solche Initiativen können das Interesse an diverseren Berufsfeldern wecken und den Übergang von der Schule in den Beruf erleichtern.

Abschließend bleibt zu betonen, dass die volkswirtschaftliche Herausforderung des Fachkräftemangels ohne die Einbeziehung junger Menschen nicht zu lösen ist. Nicht zuletzt für Unternehmen ist es unerlässlich, ein Umdenken anzuregen und Jugendliche in adäquater Art und Weise auf den Wegen zu adressieren, über die sie tatsächlich zu erreichen sind. „One size fits all“ kann nicht die Antwort auf eine solch komplexe Herausforderung sein.

Autorin: Christiane Schubert, Kompetenzzentrum Technik, Managing Director der JOBLINGE gAG FrankfurtRheinMain