Dieser Beitrag erschien in Auszügen im WorldSkills Germany Magazin - Ausgabe 17 (September 2020). Lernen Sie unser Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen kennen >>
Eher den akademischen oder lieber den beruflichen Bildungsweg einschlagen? Das scheint für Schulabgänger/innen die entscheidende Frage zu sein. Dass es aber keine Notwendigkeit für ein Entweder-oder gibt, hat schon das Konzept der „Offenen Hochschule“ gezeigt, das sich an Berufstätige und damit bewusst an andere Zielgruppen richtet. Wie sich berufliche und akademische Bildung zusammendenken und die Übergänge zwischen diesen strikt getrennten Bildungsbereichen erleichtern lassen, damit beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung. Mehrere interessante Kombinationsmodelle hat sie bereits projektbasiert begleitet.
Die Bemühungen um die Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen sind Teil des Projekts „Chance Ausbildung“, dessen erste Projektphase 2013 startete. Darin erarbeitet die Stiftung unter anderem mit Landesministerien und der Bundesagentur für Arbeit Antworten auf die die Fragen, wie man Ausbildung besser machen und jungen Menschen mehr Chancen und individuellere Wege eröffnen kann. Im Bereich der Durchlässigkeit sei das Ziel zum Beispiel nicht ausschließlich, jungen Menschen mit beruflichem Abschluss einen besseren Einstieg in ein Hochschulstudium zu ermöglichen, sondern auch Studienabbrecher für eine berufliche Ausbildung zu gewinnen. Denn: In beide Richtungen stellt sich die Frage, wie bereits erlernte Inhalte anerkannt werden können. „Dass wir uns in zwei verschiedenen Welten bewegen, wird auch daran deutlich, dass die berufliche und akademische Bildung in völlig unterschiedlichen Ministerien angegliedert sind. Fachbereiche, die sich mit Hochschuldidaktik befassen, befassen sich nicht mit Berufsschuldidaktik“, zeigt Naemi Härle auf, die die Initiative als Projektmanagerin bei der Bertelsmann-Stiftung verantwortet. „Wir wollen hier die Kommunikation stärken und sprichwörtlich zwei Welten zusammenführen.“
Wie hoch das Bedürfnis sei, die beiden Bildungswege zu vereinen, zeige auch der Andrang, den duale Studiengänge in den letzten Jahren verzeichnen konnten, so Naemi Härle. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) waren 2016 erstmals mehr als 100.000 dual Studierende gemeldet. 2004 waren es knapp 41.000. Auch im Berufsbildungsbericht 2020 ist zu lesen: „In den letzten Jahren haben duale Studiengänge an Bedeutung gewonnen. […] Die Beschäftigungswahrscheinlichkeit liegt in den ersten Jahren nach einem dualen Studium vier Prozentpunkte höher als nach einem Universitätsstudium.“ Allerdings sei dieses System durch die Doppelbelastung auf sehr leistungsstarke junge Menschen ausgelegt, da Studium und Ausbildung selten gut aufeinander abgestimmt seien, so Naemi Härle. „In diese Lücke wollten wir springen und haben die studienintegrierte Ausbildung entwickelt.“
Die studienintegrierte Ausbildung führt beide Welten zusammen: Im Betrieb erfolgt die praktische Ausbildung, die Berufsschulen vermitteln das breite Wissen und in der Hochschule lernen die jungen Menschen akademische und wissenschaftliche Hintergründe und Kompetenzen kennen. Nach einiger Zeit steht dann, unterstützt durch ein Coaching, die Entscheidung an, welchen Weg die Studierenden, die damit gleichzeitig auch Auszubildende sind, gehen möchten: den Doppelabschluss anstreben oder sich wahlweise für den Hochschulabschluss beziehungsweise die betriebliche Ausbildung entscheiden. Weiterer Vorteil: Junge Menschen müssen sich nicht gleich nach dem Schulabschluss entscheiden und können ausprobieren, welcher Weg besser zu ihnen passt.
Die Idee einer studienintegrierten Ausbildung wurde aufgegriffen und in die Praxis überführt. Dabei unterscheidet sich je nach Ausgangslage und Bedarf die Umsetzung vor Ort: Die Berufliche Hochschule Hamburg wurde eigens für die studienintegrierte Ausbildung gegründet. Sie wird ihren Betrieb im Sommer 2021 aufnehmen. Hier werden die akademische und die berufliche Ausbildung als gleichrangig erachtet. Bildungsgänge sind zum Beispiel Fachinformatik plus der Bachelor in Informatik oder Industriekaufleute plus der Bachelor in BWL. In Nordrhein-Westfalen geht man aufgrund der Flächenstruktur einen anderen Weg und hat vier Hochschulen mit vier Berufsschulen verknüpft, zum Beispiel in den Ausbildungen Industriemechaniker/in und Kfz-Mechatroniker/in mit den Studiengängen Maschinenbau und Fahrzeugtechnik. Ein anderes Projekt ist die „Integration von Studienelementen in die berufliche Bildung in Sachsen“ (ISEBS) am Lehrstuhl für Pädagogen an der Technischen Universität (TU) Dresden, das im Januar abgeschlossen und derzeit evaluiert wird. In der Umsetzung zeigten sich Besonderheiten, die das Projektteam nicht erwartet hätte: „Wir haben damit gerechnet, einzelne Schülerinnen und -schüler durch das Angebot zu überfordern. Das war aber nicht der Fall: Unterstützt durch ein beratendes Coaching hatten sie sich meist Seminare ausgesucht, bei denen sie sich der theoretischen Seite von bereits praktisch Bekanntem genähert hatten“, berichtet Naemi Härle. Und noch etwas erstaunte die Projektbegleitenden: der pure Lernwille der „Test-Studierenden“. „Die Projektkonzeption sah vor, dass die Schülerinnen und Schüler Module an der Hochschule belegen und dafür den Unterricht an der Berufsschule ausfallen lassen können. Diese Möglichkeit haben sie nicht genutzt, sondern die hochschulische Begleitung als zusätzliche Wissenserweiterung angenommen. Das zeigt uns, dass die Zielgruppe begierig ist, Neues zu lernen – und dieses Interesse wird aktuell noch nicht gestillt.“
Selbstverständlich lässt sich dieses Vorgehen (noch) nicht auf alle Berufe ausweiten, aber gerade in Zeiten, in denen Bildungsbiografien vielfältiger werden, scheint diese kombinierende Art der Bildung Win-win-Situationen für alle Seiten aufzuzeigen: Jugendliche müssen sich nicht sofort für einen der beiden Wege entscheiden und Betriebe erhalten umfassend ausgebildete Fachkräfte. Als langfristiges Ziel wünscht sich Naemi Härle „nicht mehr die strikte Trennung von Ausbildung und Studium, sondern die Betrachtung beider Bildungspfade als ein nachschulisches Bildungssystem, das zusammengedacht wird“.
Tipp: Es sind weitere Austauschformate im Rahmen der Initiative geplant, um relevante Stakeholder der beruflichen und akademischen Bildung zusammenzubringen. Wenn Sie sich einbringen möchten, melden Sie sich gerne bei der Projektmanagerin Naemi Härle unter naemi.haerle@bertelsmann-stiftung.de.
Das Konzept geht auf den 2011 initiierten Wettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zurück. Darin wurden bundesweit Projekte von Hochschulen und Hochschulverbünden gefördert, die Studienangebote besonders für Berufstätige, Personen mit Familienpflichten und Berufsrückkehrer/innen entwickeln. Auch die Verzahnung beruflicher und akademischer Bildungswege gehört dazu. Weitere Informationen: www.wettbewerb-offene-hochschulen-bmbf.de
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