„Etwa 30 Prozent der Ausbildungsunternehmen sind schon 4.0“

19. April 2021

Was bedeutet die Digitalisierung für die berufliche Ausbildung?

Dieser Beitrag erschien in Auszügen im WorldSkills Germany Magazin – Ausgabe 19 (April 2021). Lernen Sie unser Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen kennen >>

Die Digitalisierung der beruflichen Bildung hat Fahrt aufgenommen. Das bundesweite „Netzwerk zur Qualifizierung des Berufsbildungspersonals im digitalen Wandel“ (Netzwerk Q 4.0) trägt dem Rechnung. Dirk Werner ist Leiter des Netzwerks. Mit WorldSkills Germany sprach er über Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung und warum Unternehmen jeder Größe profitieren können.

Herr Werner, beschreiben Sie bitte das Netzwerk Q 4.0.
Wir koordinieren sämtliche regionalen Bildungswerke der Wirtschaft und andere Partner. Wir ermitteln Weiterbildungsbedarfe von Ausbilderinnen und Ausbildern, aber auch von Lehrpersonal an Berufsschulen. Dazu gehen wir mit den Unternehmen und Bildungseinrichtungen in Interviews und in Ideen-Workshops und schauen uns deren Bedürfnisse an. Auf dieser Basis entwickeln wir passgenaue Qualifizierungsangebote, damit sich das Ausbildungspersonal im digitalen Wandel gut aufstellen kann und Auszubildende eine zeitgemäße Qualifikation für die digitale Arbeitswelt erhalten.

Wird die Berufsausbildung der Zukunft vollständig digital?
Ohne Digitalisierung wird es sicher nicht mehr gehen. Deswegen kommt auch dieses Jahr die neue vom Bund, den Kultusministerien der Länder, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften entwickelte Standardberufsbildposition „Digitalisierte Arbeitswelt“, die für alle Berufe gelten wird. Darin werden Mindeststandards für die Vermittlung in den Themenfeldern Datenschutz, Wissensmanagement sowie digitale Lern- und Arbeitstechniken, Kommunikation und Arbeitsorganisation festgelegt. Das sind Grundlagen, die in allen Berufen wichtig sein werden.

Welche Chancen ergeben sich aus der Digitalisierung in der beruflichen Ausbildung?
Digitale Lernmedien bieten die große Chance, Inhalte anschaulicher zu vermitteln. So kann man zum Beispiel mit Hilfe von Virtual oder Augmented Reality in Maschinen oder in Sicherheitsbereiche hineinschauen, was physisch nicht möglich ist. Ein Beispiel ist der Hochvolt-Bereich. So etwas lässt sich analog nur auf dem Papier anschauen. Mit Hilfe von virtuellen Lernumgebungen können sich Auszubildende jederzeit Situationen abrufen, ohne dass jedes Mal eine Ausbilderin oder ein Ausbilder neben ihnen stehen muss. Eine weitere Chance liegt darin, Azubis schon in der Ausbildung mit Aufgaben und Anforderungen der digitalen Arbeitswelt vertraut zu machen, die sie später im Beruf beherrschen müssen.
Jetzt, in dieser Pandemie-Situation, bietet die Digitalisierung zudem die Chance, Ausbildung überhaupt weiterzuführen. Wenn die Azubis im Homeoffice sind, kann man sie nur über digitale Kanäle in ihrem Lernprozess begleiten.

Dirk Werner ist Leiter des Netzwerks zur Qualifizierung des Berufsbildungspersonals im digitalen Wandel (Netzwerk Q 4.0). (Foto: IW Medien)

Welche Herausforderungen sehen sie im Zusammenhang mit der Digitalisierung durch die Corona-Krise?
Weil aufgrund der Hygienevorschriften Schulen, Lernlabore, Werkstätten und Betriebe teilweise nicht wie üblich genutzt werden können, muss im Schichtbetrieb oder digital gelernt werden. Dabei geht es zunächst darum, die notwendige Infrastruktur zu schaffen. Gutes W-LAN ist in ländlichen Regionen in Deutschland leider nicht selbstverständlich. Auch eine gute Ausstattung mit technischen Geräten muss gewährleistet werden – das hat aber, denke ich, in den letzten Monaten zunehmend gut funktioniert.

Welche Herausforderungen entstehen generell durch die Digitalisierung in der beruflichen Ausbildung?
Viele Unternehmen fragen sich: Welche Inhalte sollen wir qualifizieren, damit die Azubis das Richtige lernen und wir in Zukunft gut aufgestellt sind? Was ist in drei Jahren relevant? Welche digitalen Medien können unseren Lernprozess fördern? Wie wählen wir ein gutes E-Learning-Instrument aus, das nicht zu teuer ist? Wie implementieren wir digitale Lernmethoden in der Ausbildung? Diese Fragen muss jedes Unternehmen für sich beantworten. Die Antworten können in jedem Beruf, in jeder Branche, in jeder Region unterschiedlich ausfallen. Manche Branchen sind vorangegangen. Die Metall- und Elektroindustrie hat beispielweise vor zwei Jahren sieben neue Zusatzqualifikationen entwickelt, die auch für die Chemieindustrie hilfreich sind. Andere gehen den Weg über neue Berufe, wie den Ausbildungsberuf „Kaufmann/Kauffrau im E-Commerce“ im Bereich Handel und Logistik. Für Ausbilder/innen kommt die Frage nach ihrer Rolle hinzu: Inwiefern müssen sie in digitalen Zeiten anders agieren als sie das früher getan haben?

Was müssen Ausbilderinnen und Ausbilder können und lernen, um den Anforderungen des digitalen Wandels gerecht zu werden?
Zum einen müssen sie sich selbst auf dem Laufenden halten, welche Technologien und Techniken in Unternehmen neu eingeführt werden. Dann müssen sie im Umgang mit den Lernmedien und digitalen Tools, die sie einsetzen, fit sein. Da ist manchmal die Herausforderung, dass die Angehörigen der jungen Generation, die Digital Natives, teilweise weiter sind als die Ausbilder/innen. Abgesehen davon ist es für Ausbilder/innen wichtig, ein neues Rollenverständnis zu entwickeln: Weniger unterweisen, weniger vormachen und von den Auszubildenden nachmachen lassen, wie es bei der klassischen „Vier-Stufen-Methode“ der Fall ist. Stattdessen müssen sie mehr zum Begleiter bzw. zur Begleiterin eines Lernprozesses werden. Das heißt, sie müssen die Selbstständigkeit der Auszubildenden fördern, sie selber recherchieren und nach Lösungen suchen, Projekte selber organisieren lassen und immer dann Impulse geben, wenn es erforderlich ist.

Sehen Sie, dass die Berufsausbildung in Deutschland den digitalen Wandel derzeit erfolgreich vollzieht?
Wir haben bereits sehr viel erreicht, aber es gibt auch noch viel Luft nach oben. Nach repräsentativen Umfragen, die wir durchgeführt haben, vermitteln gut neun von zehn Unternehmen digitale Fähigkeiten und Kenntnisse. 85 Prozent der Unternehmen setzen digitale Lernmedien in der Ausbildung ein. Das sind Wissensbibliotheken, Wikis, Online- Foren, aber auch digitale Arbeitsmittel, an denen die Azubis lernen. Zudem bilden sich in den meisten Unternehmen auch die Ausbilder/innen schon kontinuierlich weiter.
Die andere Seite der Medaille: Nur knapp vier von zehn Unternehmen vollziehen den digitalen Wandel schon strategisch. Bei den anderen passiert vieles noch ad hoc, wird noch ausprobiert. Wir haben das in einem Index dargestellt, den wir „Ausbildungsunternehmen 4.0“ nennen. Da fließen relativ viele Indikatoren ein. Danach können wir festhalten: Etwa 30 Prozent der Ausbildungsunternehmen sind schon 4.0. Auf der anderen Seite gibt es knapp ein Viertel digitale Nachzügler.
Im internationalen Vergleich ist ein großer Vorteil, dass die duale Ausbildung in Deutschland integriert in reale Arbeits- und Geschäftsprozesse stattfindet. Die Lernenden sind dabei viel näher an der aktuellen Technologie, an der aktuellen Arbeitsorganisation als in vielen anderen Ländern, wo Ausbildung meist in Schulen vermittelt wird, die oft technisch nicht auf dem neuesten Stand sind. Beispielsweise wird in Deutschland Industrie 4.0 auch an Berufsschulen anschaulich in Lernfabriken vermittelt und für diese technologischen Prozesse sensibilisiert.

Können Sie Best Practices nennen?
Gute Beispiele finden sich in allen Branchen. Im Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) präsentieren wir beispielsweise ein kleines Malermeister-Unternehmen, dessen Beschäftigte über das Smartphone ihre Arbeit organisieren: Sie planen Termine, erledigen die Materialbeschaffung und das Beschwerdemanagement mit Kunden. Daran sieht man: Alle können etwas machen.
Dann gibt es natürlich die großen Industrieunternehmen, die Lernmanagementsysteme aufgesetzt und die ganze Klaviatur der digitalen Lernmedien verfügbar haben.

Wo sehen Sie noch Defizite?
Bei der Qualifizierung des Ausbildungspersonals. Das ist vor allem eine Zeitfrage: Im laufenden Betrieb wird zusätzlich konzeptionelle Grundlagenarbeit geleistet. Ausbilder/innen müssen sich eigenständig weiterbilden und gleichzeitig die Ausbildung digital unterstützt umstellen. Deshalb steht auch im Zentrum unseres Projektes, Qualifizierungsangebote für Ausbilder/innen zu entwickeln, die sie arbeitsplatznah bei Umsetzungs- und Prozessschritten unterstützen.

Was wünschen Sie sich an Weichenstellungen von politischer Seite?
Ich würde mir wünschen, dass wir ein stärkeres Engagement für die duale Ausbildung bekommen, die in Deutschland einen hohen Stellenwert hat. Wir brauchen mehr Förderprogramme und konkrete Handlungshilfen für Unternehmen. Sie benötigen mehr Projekte, die Qualifizierungsangebote für Ausbilder/innen entwickeln. Helfen würden auch Lernplattformen, auf denen Informationen für Ausbildungspersonal gebündelt werden und auf denen sich Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe stärker vernetzen und im Ausbildungsalltag zusammenarbeiten könnten sowie Angebote, um die Berufsorientierung in Corona-Zeiten digital gestalten zu können.

Das Netzwerk Q 4.0 ermittelt Weiterbildungsbedarfe von Ausbilderinnen und Ausbildern sowie von Lehrpersonal an Berufsschulen. Dazu führt es mit Unternehmen und Bildungseinrichtungen Interviews und Ideen-Workshops durch. Auf dieser Basis werden Qualifizierungsangebote für Lehrende entwickelt, damit diese den Auszubildenden eine zeitgemäße Qualifikation auf den Weg geben können. Angesiedelt ist das Netzwerk im Institut der deutschen Wirtschaft (IW), das die regionalen Bildungswerke der Wirtschaft und weitere Partner koordiniert. Das Projekt ist Teil der Dachinitiative „Berufsbildung 4.0“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Weiterführende Informationen:

Netzwerk Q 4.0 >>
Dachinitiative „Berufsbildung 4.0“ >>
Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung >>

Weitere Fachbeiträge und Best-Practices finden Sie im WorldSkills Germany Magazin, dem Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen.

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Bei einem so genannten virtuellen "Design Sprint" (fünftägiger Workshop) entwickelte das Netzwerk Q 4.0 im November 2020 gemeinsam mit seinem Baden-Württembergischen Partner aus einem Prototypen ein Qualifizierungsangebot, bei dem das Konzept des "Reverse Mentoring" (Auszubildende/r wird Mentor/in, Ausbilder/in zum Mentee) am Anfang als Idee stand. Um die Ergebnisse des fortschreitenden Workshops immer wieder zu testen, nutze man zu Beginn eine Lego-Figur als "Persona"-Anschauungsmaterial. (Foto: Bonneval Sebastien/unsplash)

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