Mehr Freiheit für Berufswünsche!

5. Dezember 2020

Wie Jugendliche ihre Berufswünsche an die Erwartungen ihrer Umwelt und den Ausbildungsmarkt anpassen

Dieser Beitrag erschien in Auszügen im WorldSkills Germany Magazin - Ausgabe 18 (Dezember 2020). Lernen Sie unser Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen kennen >>

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist seit Januar 2015 Inhaberin der Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg und Abteilungsleiterin am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe. Mit WorldSkills Germany hat sie über ein aktuelles Forschungsprojekt gesprochen, in dem die Übergänge zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt untersucht werden.

"Übergänge", so lautet der Kurztitel Ihres aktuellen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts: "Kompromissbildung und deren Konsequenzen – Pfadabhängigkeiten zwischen Berufsfindung, Bildungsentscheidungen und Ausbildungsverläufen". Wie definieren Sie den Begriff der "Übergänge" in diesem Kontext?

Der Begriff bezeichnet einen Forschungsbereich, der sich mit dem Übergang zwischen Schule und Arbeit beschäftigt. Dieser Übergang ist international sehr unterschiedlich. In nicht wenigen Ländern gehen beispielsweise viele Jugendliche von der Schule direkt in Arbeit über. Demgegenüber bildet bei uns in Deutschland die berufliche Ausbildung den Standard. Der Prozess des Übergangs beginnt in unserer Definition nicht erst mit dem Schulabschluss, sondern schon wesentlich früher. Wir fragen nach den Wunschberufen der Jugendlichen in dieser frühen Phase und verfolgen mit, wie sie sich anschließend weiterentwickeln. "Übergang" bedeutet für uns also die gesamte Phase der Berufsfindung inklusive Berufsberatung bis zur Einmündung in einen ersten Ausbildungsberuf. Prototypisch beginnen Jugendliche, sich ein bis zwei Jahre vor dem Schulabschluss mit ihrem Wunschberuf zu beschäftigen. Die Messungen im NEPS – also in unseren Daten – haben die Wunschberufe ein bis eineinhalb Jahre vorher erfasst, also etwas später, als wir uns es selbst gewünscht hätten.

Warum wurde die Gruppe der Abiturient/innen aus Ihrer Untersuchung ausgeklammert?

Das hatte eine Reihe von Gründen: Erstens stehen Abiturient/innen neben der Berufsausbildung noch viele andere Bildungswege offen, insbesondere ein Studium. Das ist bei Haupt- und Realschülerinnen nicht der Fall. Daher sind die Restriktionen und Wahlprozesse dieser Gruppen nur sehr schwer miteinander zu vergleichen. Zweitens sind Abiturienten älter, wenn sie in die Übergangsphase eintreten. Sie haben beispielsweise einfach dadurch, dass sie bereits volljährig sind, andere Möglichkeiten, können einfacher in eine andere Stadt wechseln. Daher haben wir uns dazu entschlossen, uns auf eine Gruppe zu beschränken, die möglichst homogen ist. Aber eine Analyse der Übergangsprozesse bei Abiturient/innen wäre sicherlich ebenfalls spannend.

Was verstehen Sie unter "Pfadabhängigkeiten"?

Pfadabhängigkeiten bedeuten, dass mir nicht mehr alle Optionen zur Verfügung stehen, nachdem ich einen bestimmten Weg eingeschlagen habe. Eine frühere Entscheidung bedingt immer eine spätere. Was wir damit meinen, sind die Konsequenzen, die daraus entstehen, dass viele Jugendliche ein bestimmtes Berufsspektrum schon sehr früh ins Auge fassen und viele andere Bereiche ausschließen. Teilweise geschieht dies bereits in der Kindheit und ganz unbewusst. Vieles wird von vornherein nicht in Betracht gezogen, weil es nicht zu den eigenen Interessen passt, zum Geschlecht oder zum Status der Eltern und ihrer Umgebung. Dadurch schränken sich die Jugendlichen sehr stark ein und so entstehen Pfadabhängigkeiten, lange bevor überhaupt die Frage auftaucht: "Auf welchen Ausbildungsplatz soll ich mich bewerben?" Die entsprechende Entscheidung erzeugt schließlich bestimmte Erfolge oder Misserfolge, wenn sich Jugendliche beispielsweise auf untypische Wege begeben. Sehr starke Schranken setzen dabei auch die Schulabschlüsse der Jugendlichen. Diese Pfadabhängigkeiten sehen wir uns an, vor allem mit dem Blick darauf, dass es häufig nicht gelingt, eine Aspiration, sprich: einen bestimmten Berufswunsch, umzusetzen. Dann müssen Kompromisse gemacht werden. Hier fragen wir: Wie bedingen die früheren Entscheidungen die späteren? Was hat das für Konsequenzen für den Ausbildungsverlauf und für den späteren Erfolg im Beruf?

Prof. Dr. Corinna Kleinert, Professorin für Soziologie an der Universität Bamberg und Abteilungsleiterin am Leibnitz-Institut für Bildungsverläufe (Foto: Monica Fröhlich/Universität Bamberg)

Von wann bis wann wird Ihre Studie durchgeführt? Wie gehen Sie methodisch vor? Wie werden die Daten für Ihre Studie erhoben?

Unsere Studie ist als Projekt DFG-finanziert und läuft von 2018 bis 2022. Wir werden uns aber sicher über diesen Zeitraum hinaus mit dem Thema beschäftigen. Die Daten, die wir nutzen, sind die des Nationalen Bildungspanels (NEPS, Erklärung am Ende des Interviews), die das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe produziert. Dabei arbeiten wir vor allem mit den Daten der NEPS Startkohorte 4. Diese ist eine großangelegte Langzeit-Panelstudie zu Jugendlichen an allgemeinbildenden Schulen, die 2010 die neunten Klassen besucht haben. Teilgenommen haben 14.540 Jugendliche aus Regelschulen und 1.089 aus Förderschulen. Diese Kohorte wurde seitdem einmal im Jahr befragt und getestet. Die Jugendlichen aus den Förderschulen haben wir in unserem Projekt allerdings nicht mit einbezogen.
Die Datendichte der NEPS-Studie erlaubt es uns zum ersten Mal, eine solche Untersuchung in Deutschland durchzuführen. Es gab zuvor keine so groß angelegte Befragung, die Jugendliche in diesem Alter immer wieder in den Blick genommen hat.

Sind Sie während der Durchführung der Studie bzw. während der Erhebung oder Auswertung der Daten auf Hindernisse oder Schwierigkeiten gestoßen? Falls ja: Welche waren das und wie gehen Sie damit um?

Alle Schülerinnen und Schüler der NEPS Startkohorte 4 wurden das erste Mal befragt, als sie am Anfang der neunten Klasse standen. Dann noch einmal in der zweiten Hälfte der neunten Klasse und erst zu diesem Zeitpunkt sind sie nach ihren Wunschberufen gefragt worden. Das heißt, die Antworten der Schülerinnen und Schüler, die nach der neunten Klasse abgingen, bezogen sich schon nicht mehr auf ihre Wunschberufe. Die meisten von ihnen hatten bereits einen Ausbildungsvertrag unterschrieben. Das heißt: Wir sind für diese Gruppe zu spät ins Feld gegangen. So konnten wir nicht mehr die ehemaligen Wunschberufe ermitteln, die sie eventuell hatten, bevor sie angefangen haben, sich zu bewerben. Da wir dies nicht mehr rekonstruieren konnten, haben wir uns entschlossen, diese Gruppe auszuklammern. Wir konnten aber dennoch eine ausreichend große Gruppe an Hauptschüler/innen untersuchen, weil in vielen Bundesländern damals zehn Jahre Hauptschule die Regel waren.

Sie erwähnten eingangs, dass in Deutschland Berufe den Übergang in das Erwerbsleben besonders stark strukturieren. Können Sie das ausführen?

In Deutschland gilt es als selbstverständlich, dass man eine Berufsausbildung macht, dabei haben wir hierzulande tatsächlich ein sehr spezielles System. In Deutschland ist es sehr, sehr wichtig, eine Ausbildung zu haben und Zeugnisse aller Art vorweisen zu können. Ohne Zeugnisse hat man praktisch keine Chance auf eine stabile Erwerbslaufbahn, die ein ausreichendes Einkommen garantiert. Eine Berufsausbildung ist der Mindeststandard für einen Eintritt in den qualifizierten Arbeitsmarkt. In anderen Ländern ist das anders organisiert. In Großbritannien zum Beispiel oder in den USA. Dort wird zwar auch Ausbildung vermittelt, aber eher schulisch, mit weniger Praxisbestandteilen und ohne betriebliche Beteiligung. Nach diesen schulischen Grundausbildungen erfolgt dann das „learning on the job“ – oftmals auch ohne Zeugnis. Das hat Vor- und Nachteile. Der zentrale Nachteil ist aus meiner Sicht, dass es in diesen Ländern mehr Jugendarbeitslosigkeit gibt, die dadurch entsteht, dass Jugendliche länger brauchen, bis ihnen der erste Eintritt in den Arbeitsmarkt gelingt. Es hat aber auch den Vorteil, dass Berufswechsel – auch in höherem Alter – viel einfacher möglich sind. Es ist vielleicht in unserem System der gravierendste Nachteil, dass es schwer ist, sich neu zu erfinden: Was man einmal gelernt hat, bestimmt das Leben sehr. Das ist wohl die größte Pfadabhängigkeit hierzulande. Die soziale Mobilität ist dadurch eingeschränkt. Hier besteht auch ein enger Zusammenhang zur sozialen Ungleichheit in Deutschland.

Das von WorldSkills Germany initiierte Berufsorientierungsprojekt „Entdecke deine Talente“ hilft Schüler/innen der achten Klassen dabei, die eigenen Stärken und Interessen zu erkunden. (Foto: Stephan Haase)

Im Zuge der Bildungsexpansion und des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt haben sich die Bildungswege in Deutschland deutlich verändert. Können Sie uns Ihre Einschätzung hierzu erläutern?

Dies ist ein Riesenthema für die berufliche Bildung. Der Trend zu höheren Bildungsabschlüssen ist ja ein langlebiger Trend, den wir schon seit den 1950er-Jahren erleben. In den 2000er- und 2010er-Jahren schien er jedoch zum Erliegen gekommen zu sein. Damals hat man für einige Jahre eine Stagnation beobachtet bei den Abiturienten- und Studierendenquoten. Doch in den letzten Jahren hat der Trend zum Abitur und zum Fachabitur nach der Realschule wieder an Fahrt aufgenommen.

Wie ist es zu der Stagnation in den 2000er-Jahren gekommen?

Das ist schwer zu rekonstruieren. Leichter findet man Erklärungen dafür, warum der Trend zu Abitur und Studium später wieder stärker wurde. Ein Faktor für das Wiederaufleben der Bildungsexpansion waren sicher die Probleme, die es vor circa zehn Jahren auf dem Ausbildungsmarkt gab. Damals hatten – im Gegensatz zu heute – sehr viele Schulabgänger/innen keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Eine weitere Erklärung dafür, dass die Bildungsexpansion in den letzten Jahren hier wieder relativ stark ist, mag sein, dass wir tatsächlich ein international vergleichsweise niedriges Ausgangsniveau haben. Die Quote an Studierenden in Deutschland ist noch immer niedrig im Vergleich zu vielen anderen OECD-Staaten. Andere Länder sind hier auf einem ganz anderen Niveau, zum Beispiel Südkorea mit fast 70 Prozent akademisch ausgebildeten jungen Erwachsenen (zwischen 25 und 34 Jahren). Die Pisa-Studien mögen die Diskussion um die Bildung gerade auch in den Medien stark angeheizt haben. Möglicherweise ist der Wunsch nach höherer Bildung in der Bevölkerung dadurch wieder verstärkt worden.
Tatsächlich hat jedoch unser Arbeitsmarkt bislang die höher gebildeten Personen aufgesogen. Die Probleme des „ewigen Praktikanten“ oder des „taxifahrenden Studierten“ sind eher selten und die entsprechenden Probleme sind in den vergangenen Jahren trotz der Bildungsexpansion nicht größer geworden. Am einfachsten zeigt sich das an der qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquote. Die für Akademiker ist kontinuierlich gering und stieg auch nicht systematisch mit der Bildungsexpansion an. Eine weitere Erklärung, die ich für nicht ganz unplausibel halte, ist, dass die berufliche Bildung gerade in Zeiten von Wirtschaftskrisen immer besonders attraktiv war. Gerade auch für Abiturient/innen. Nun hatten wir in den vergangenen zehn Jahren eine Hochkonjunkturphase. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass das Studium so stark nachgefragt wird. Jedenfalls zeigen sich entlang dieser Trends zunehmend Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt.

Welche Probleme sind das und wie kommen sie zustande?

Man sieht auf der einen Seite eine Menge unbesetzter Ausbildungsplätze, aber auf der anderen Seite noch immer eine Menge Jugendliche, die eine Ausbildung suchen und dabei nicht erfolgreich sind. Die Stellen, die angeboten werden, passen also nicht zu den Jugendlichen. Ein Problem ist, dass einige Jugendliche sich Stellen wünschen, die es in Wirklichkeit oft nur selten gibt . Daher ist die Konkurrenz groß und die Erfolgschancen auf einen Ausbildungsplatz sind eher gering. Zugleich bleiben viele Stellen unbesetzt, zum Beispiel im Einzelhandel, in Tourismus und Gastronomie, aber auch in Metzgereien und Bäckereien.
Umgekehrt passen aber auch die Jugendlichen nicht immer zu den Vorstellungen der Ausbildungsbetriebe. Sie bringen manchmal nicht die nötigen Qualifikationen oder beispielsweise das gewünschte Aussehen mit. Aus der Forschung wissen wir, dass Arbeitgeber/innen, oftmals unbewusst, nach Azubis suchen, die gut mit der Belegschaft im Betrieb harmonieren, das heißt, die der bisherigen Belegschaft ähnlich sind. Jugendliche, die nicht die entsprechenden Eigenschaften mitbringen, z.B. das gleiche Geschlecht oder die gleiche Herkunft, haben es daher schwerer als andere.
Ein eher struktureller Grund für die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt ist das starke regionale Ungleichgewicht, mit dem wir uns in Deutschland konfrontiert sehen. Oft wohnen die potenziellen Auszubildenden nicht da, wo die Betriebe sind. Und Jugendliche mit 16 oder 17 Jahren können nicht so einfach umziehen. Deshalb gestaltet sich die Situation auf dem Ausbildungsmarkt schwieriger als die auf dem Arbeitsmarkt. In einigen Bundesländern wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern haben viele Betriebe schon sehr früh über einen Mangel an Auszubildenden geklagt, gerade im Tourismus. Aber in diesen Regionen leben leider nicht besonders viele Jugendliche und gerade Haupt- und Realschulabsolventen sind oft noch nicht volljährig und können maximal pendeln, aber das auch nur bedingt.

In Ihrem aktuellen Forschungsprojekt "Übergänge" gehen Sie – unter anderem – folgender Leitfrage nach: Wie passen Jugendliche vor Ende der Schulzeit ihre Berufswünsche und Bildungsaspirationen an die Erwartungen ihrer Umwelt und die Realitäten des Ausbildungsmarktes an? Gibt es hierzu bereits Ergebnisse, von denen Sie uns berichten können?

Ja, die gibt es! Wir haben für jeden Jugendlichen in den NEPS-Daten des Nationalen Bildungspanel seinen realistischen Wunschberuf hinterlegt. Dazu hatten wir die Jugendlichen noch in der Schule gefragt: Was glaubst du, kannst du realistisch machen? Die hier angegebenen Wunschberufe haben wir anschließend mit dem ersten erreichten Ausbildungsberuf der Jugendlichen verglichen. Dabei wurden schulische und berufliche Ausbildungen gleichermaßen in die Betrachtung mit einbezogen. Für jeden Beruf in Deutschland haben wir strukturelle Merkmale zu unseren Daten hinzugefügt, z. B. den Durchschnittslohn, das durchschnittliche Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer/innen, das Berufsprestige, der Anteil von Beschäftigten mit atypischen Arbeitszeiten, der Anteil von Großbetrieben, das Arbeitslosigkeitsrisiko der Beschäftigten. Und dann haben wir die Wunschberufe der Jugendlichen mit ihren Ausbildungsberufen anhand dieser Merkmale verglichen.
So konnten wir analysieren, wie viele Jugendliche genau den Beruf erreicht haben, den sie sich gewünscht haben. Unser Ergebnis: Das sind sehr wenige! Gerade einmal 16 Prozent von denen, die überhaupt in eine Ausbildung gegangen sind. Knapp ein Drittel (31 %) hatte noch keinen Wunschberuf. Der große Rest (52 %) musste Kompromisse machen und sich einen anderen Ausbildungsberuf suchen als den ursprünglichen Wunschberuf. Anschließend haben wir untersucht, welche Muster sich in den Kompromissen zeigen, die die Jugendlichen in puncto Sicherheit, Status und Prestige gemacht haben. Und tatsächlich haben wir vier eindeutige Muster gefunden:

1. Eine erste Gruppe von Jugendlichen konnte Berufe erreichen, die ihren Wunschberufen sehr ähnlich waren.
2. Bei einer zweiten Gruppe hatten sich vor allem die Arbeitsbedingungen im Vergleich zum Wunschberuf verschlechtert. Diese Jugendlichen mussten dann beispielsweise Nacht- oder Wochenendarbeit leisten.
3. Eine dritte Gruppe hatte sich in allen Bereichen stark verschlechtert: Arbeitsbedingungen, Einkommen, Lohn.
4. Schließlich gab es noch eine vierte Gruppe, die sich verbessert hatte. Das war auch für uns sehr spannend, denn damit hatten wir nicht gerechnet!

Vor allem die Höhe der Aspirationen war ausschlaggebend dafür, wer in welcher Gruppe gelandet ist. Die Jugendlichen, die besonders hohe Erwartungen hatten, mussten diese oftmals nach unten anpassen. Das liegt zwar im Grunde auf der Hand, ist aber dennoch wichtig, denn die Höhe der Aspirationen steht in vielen Fällen in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft. So haben etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund häufig hohe Aspirationen. Was auch sehr stark strukturierend wirkt, sind Schulabschlüsse und Noten. Je besser ihre Bildung ist, desto weniger Kompromisse mussten die Jugendlichen machen und desto häufiger haben sie sogar eine Verbesserung erreicht.
Ein Ergebnis, mit dem wir so nicht gerechnet hatten war, dass die soziale Herkunft im Grunde keine Auswirkungen darauf hatte, in welcher Gruppe sich die Jugendlichen wiedergefunden haben. Die eigene Bildung war also ausschlaggebend, nicht die der Eltern. Eine Ausnahme bilden hierbei die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Bei ihnen haben wir festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, sich zu verschlechtern, höher ist als bei anderen Jugendlichen. Das liegt aber nicht nur an ihren Aspirationen. Die sind tatsächlich vergleichsweise hoch, aber auch unabhängig davon tun sich Jugendliche mit Migrationshintergrund offenbar schwerer, einen Ausbildungsplatz in ihrem Wunschberuf zu finden.

Können Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie und aus Ihren allgemeinen Erfahrungen als Wissenschaftlerin Empfehlungen für praktische Anwender/-innen im Beruf und in der beruflichen Bildung ableiten?
Eine Empfehlung kann ich tatsächlich geben: Es ist wichtig und kann sehr hilfreich sein, die eigenen Stereotype zu hinterfragen! Wir stellen immer wieder fest, wie sehr sich in den Prozessen vom Berufswunsch bis zur Ausbildung klischeehafte Geschlechterbilder oder Vorurteile verfestigen, die ihren Ursprung im sozialen Umfeld haben. Das hat auch viel mit Beratungsprozessen zu tun. Wir haben zumindest indirekte Hinweise, dass sich durch Beratung vieles verstärkt. Das heißt: Jugendliche mit Berufswünschen, die eher untypisch für ihre soziodemografische Gruppe sind (z. B. Männer in Frauenberufen), haben es schwerer. Sie werden dann mit größerer Häufigkeit in die Berufe gedrängt, die für ihre Gruppe eigentlich typisch sind. Daher sollten wir daran arbeiten, die eigenen Vorurteile – dahingehend, welche Personen besonders gut auf welche Berufe passen – zu hinterfragen. Wir sollten außerdem versuchen, das Spektrum des Nachdenkens hierüber auch für Jugendliche zu erweitern und sie ermutigen, nach bislang wenig beachteten Möglichkeiten Ausschau zu halten. Dafür entsprechende Werkzeuge zu schaffen, sehe ich als eine große Aufgabe für die Zukunft. Gerade im Hinblick auf das Geschlecht und die Berufe, die dringend besetzt werden müssen.

Wie können wir Berufe, die an einem Mangel an Auszubildenden leiden, attraktiver machen? Auch für jemanden, der als Bewerber/in viel zu bieten und entsprechend gute Möglichkeiten hat?
Ich denke, dass es helfen könnte, aufzuzeigen, welche Ausbildungsberufe große Spielräume für Autonomie bieten. Das ist in vielen Handwerksberufen der Fall. Auch bei einem Bäcker oder einer Metzgerin. Als Meister/in kann man im Handwerk sehr viel erreichen, gerade in der Selbstständigkeit. Das ist tatsächlich sogar eine gute Alternative zum Studium. Dieser Faktor wird von vielen Jugendlichen unterschätzt und zu wenig in ihre Überlegungen bei der Berufswahl mit einbezogen. Wir haben dazu keine guten Daten, aber ich gehe davon aus, dass viele Jugendliche unzureichende Vorstellungen davon haben, welche Einkommensmöglichkeiten es in Handwerksberufen gibt. Gerade, wenn ihre Eltern nicht in Handwerksberufen arbeiten. Hier müssten die Jugendlichen meines Erachtens besser informiert werden. Es könnte außerdem, gerade für kleinere Ausbildungsbetriebe, mehr Unterstützung oder eine Art Coaching dahingehend geben, wie sie Jugendliche, die gut zu ihnen passen würden, wirklich finden und für sich gewinnen könnten.

Das Nationale Bildungspanel
Das Nationale Bildungspanel (National Educational Panel Study, NEPS) besteht aus sechs großen und langfristig angelegten Teilstudien, die am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg beheimatet sind. Ziel des Nationalen Bildungspanels ist es, Längsschnittdaten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsprozessen, Bildungsentscheidungen und Bildungsrenditen über die gesamte Lebensspanne zu erheben. Das Forschungsdatenzentrum des LIfBi bereitet die Daten des Nationalen Bildungspanels auf und stellt diese der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung.

Mehr Informationen zur Studie von Prof. Dr. Kleinert finden Sie unter: www.lifbi.de/Übergänge

Weitere Fachbeiträge und Best-Practices finden Sie im WorldSkills Germany Magazin, dem Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen.
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An jeweils sechs verschiedenen Kompetenzstationen lernen die Schüler/innen verschiedene Berufe kennen und können sich praktisch darin ausprobieren. Dies hilft ihnen auch dabei, Berufe kennenzulernen, die sie aus ihrem Umfeld nicht kennen und so ihren Horizont zu erweitern. (Foto: Stephan Haase)

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