Das Interview ist Teil eines Beitrags im WorldSkills Germany Magazin - Ausgabe 17 (September 2020). Lernen Sie unser Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen kennen >>
Seit dem 1. September 2017 ist Prof. Dr. Hubert Ertl Forschungsdirektor und Ständiger Vertreter des Präsidenten im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Zudem ist Prof. Dr. Ertl Professor für Berufsbildungsforschung im Department 5 Wirtschaftspädagogik an der Universität Paderborn. Mehr über seinen Werdegang können Sie am Ende des Interviews nachlesen.
Die eigene Biografie spielt immer eine Rolle bei gewissen Entscheidungen. Aber natürlich spielen auch die Gelegenheiten mit hinein, die man im Leben geboten bekommt. Während meines Studiums in England habe ich schnell gemerkt, dass Berufsbildung dort ein sehr randständiges Thema ist. Als sich mir die Gelegenheit bot, an der Universität in Oxford eine Stelle anzunehmen, lag es bei meinem Hintergrund nahe, dass ich eine Verbindung zwischen meiner Expertise im beruflichen und hochschulischen Bereich herstelle. Der Schritt zum Übergang zwischen den beiden Systemen ist dann nicht sehr weit. Daher hatten erste Forschungsarbeiten in England auch die Übergänge zum Thema. Das war sehr interessant, weil ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen und Forschungserfahrungen in Deutschland andere Strukturen kannte. Wenn man diese vergleicht, fallen einem nicht nur die Dinge im zu erforschenden Land, sondern auch in Bezug auf das eigene Land und den eigenen Hintergrund auf.
Die Wahrnehmung ist sehr komplex. Sie ist nicht einfach zu messen oder zu bestimmen und sehr relativ. Wenn man sich die Situation international ansieht, dann hat die Berufsbildung in Deutschland innerhalb des Landes einen guten Status. Das habe ich während meiner Zeit in England sehr schnell gemerkt. Dort läuft das Thema berufliche Bildung weit unter „ferner liefen“. Im Prinzip wird in England nur die hochschulische Bildung wertgeschätzt. Sie gilt als das Tor zu einer vernünftigen Karriere. Da ist die Situation in Deutschland anders: Die berufliche Bildung gilt als Weg in berufliche Karrieren, die vielversprechend sein können, die stabil sind und ein vernünftiges Auskommen gewähren. Das sehe ich als Grundwahrnehmung in Deutschland. Aber diese kann sich auch verschieben. Wahrnehmungen sind nie stabil. Das zeigt sich deutlich, wenn man sich zum Beispiel die gegenwärtige Situation vor Augen führt: Ich habe selten so viel in den Medien von system- oder versorgungsrelevanten Berufen gelesen. Diese Labels sind nicht ganz einfach. Das sind Berufe, die sonst unterbewertet werden - jetzt wird aber deutlich, dass diese den „Laden am Laufen“ halten. Hier verschiebt sich gerade auch wieder etwas.
Einkommen und Karrierechancen sind ebenso Faktoren, die hinzukommen. Die grundsätzliche Wahrnehmung ist die, dass Hochschulabsolvent/innen mehr als beruflich Qualifizierte verdienen. Diese Sichtweise lässt aber völlig außer Acht, dass es sich hier um Durchschnittsangaben handelt. Das Verhältnis kann auch umgekehrt sein. Es gibt mittlerweile gute Studien darüber, die – sprichwörtlich gesagt – Äpfel mit Äpfeln und nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Diese Studien vergleichen Personen im selben Tätigkeitsfeld in Betrieben, die über eine akademische Bildung bzw. berufliche Aufsteigerfortbildung verfügen. Das Ergebnis: lediglich minimale Gehaltsunterschiede. Dazu kommt, dass Personen mit Aufstiegsfortbildung in den ersten 15 Jahren ihres Berufslebens mehr als Personen mit Hochschulbildung verdienen. Diese Details kommen nicht wirklich in der Öffentlichkeit an.
Auch die Wahrnehmung von Eltern und dem sozialen Umfeld hat einen großen Einfluss. Im BIBB lief vor kurzem eine Studie zu Berufen im Handwerk. Ausgangspunkt war die Frage, warum Leute, die eigentlich handwerksaffin sind, die also ein Interesse an handwerklichen Tätigkeiten haben und geschickt sind, recht selten in einer Ausbildung im Handwerk landen. Je weniger affin Elternhaus und Umfeld sind, desto weniger wahrscheinlich ist eine Karriere im Handwerk. Auch die Einstellung zu körperlicher Arbeit spielt eine Rolle. Es gibt eine allgemeine Tendenz dahingehend, dass Berufe, die mit körperlicher Arbeit zu tun haben, als weniger attraktiv empfunden werden.
Manchmal hängt das auch mit den Berufsbezeichnungen zusammen, was als attraktiv eingeschätzt wird und was nicht. Die Berufe Fachverkäufer/in Lebensmittelhandwerk und Einzelhandelskaufleute sind von den Berufsbildern und Kompetenzen her sehr ähnlich. Bei einer Bewertung von außen schneidet der Beruf Fachverkäufer/in allerdings deutlich schlechter ab. Man sieht, es geht nicht um die Substanz, sondern eindeutig um die oberflächliche Wirkung.
Diese Faktoren spielen bei der Wahrnehmung mit hinein – der differenzierte Blick fehlt hier häufig. Daher verschiebt sich viel hin zu Berufen und Positionen, die in der Regel nicht durch berufliche Bildung erreicht werden können.
Das ist ein großes Pfund, das für die berufliche Bildung spricht. Denn dahinter verbirgt sich ein sehr transparentes und durchschaubares System von Qualifikationen, die klar eingeordnet werden können: Was lernen Leute, die einen Ausbildungsberuf erlernen? Welche Kompetenzen haben sie später? Wie werden diese in den Betrieben eingesetzt? Die Berufsbezeichnungen sind überall gleich in Deutschland. Das ist im Hochschulbereich nicht der Fall. Die Zahl spricht hier für sich: Das Angebot wird immer differenzierter. Vor 20 Jahren war die Zahl der angebotenen Studiengänge niedriger. Es gab eine klare Vorstellung davon, was die Studienprogramme leisten. Das hat sich geändert, auch durch die Bologna-Reform. Die berufliche Bildung ist stark aufgestellt in Deutschland. Das liegt insbesondere auch an der Transparenz der klaren Ausbildungsprogramme.
Aus Sicht der beruflichen Bildung muss man den Fokus auf die eigenen Stärken setzen. Wir, die für die berufliche Bildung arbeiten, müssen das differenzierter angehen. Begriffe wie Akademisierungswahn oder die ketzerische Frage, wie viele Studierende es braucht – das alles hilft uns nicht weiter. Fakt ist: Die wirtschaftlichen Zusammenhänge sind komplexer geworden. Es gibt viele Tätigkeiten in der Arbeitswelt, die ein hohes Abstraktionsvermögen benötigen oder ein stark vernetztes Denken. Die Folge davon sind mehr Studierende. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin der Meinung, dass in diesen Feldern die berufliche Bildung genau den benötigten Vorteil bietet, nämlich das systemische Denken zu fördern. Wenn man sich die Neuordnungen der Ausbildungsordnungen anschaut, laufen diese genau auf diese Punkte hinaus, ein größeres Abstraktionsvermögen zu schulen und Inhalte anhand eines konkreten Zusammenhangs zu erlernen. Das ist gleichzeitig der größte Nachteil der hochschulischen Bildung: Inhalte werden eben häufig nicht im konkreten Arbeitszusammenhang, sondern abstrakt entwickelt. Genau dieses Pfund müssen wir von Seiten der beruflichen Bildung stärker einsetzen, anstatt uns über den Akademisierungswahn zu beschweren.
Ich würde hier gerne die gute Absicht betonen: die Gleichwertigkeit der Bildungssysteme hervorzuheben. Hilft das? Formal sicherlich ja, inhaltlich eher nicht. Ob diese Bezeichnungen die Attraktivität der Berufsbilder steigern, wird sich noch zeigen. Erreicht man damit eine bessere internationale Anschlussfähigkeit? Die Bologna-Reform führte zu riesigen Veränderungen, was das Abschlusssystem anbelangt. Warum sollte davon nicht auch die berufliche Bildung profitieren? Das war der grundsätzliche Ansatz hinter der Einführung der neuen Fortbildungsbezeichnungen. Ob die guten Absichten zum Tragen kommen, wird man sehen. Die Bezeichnungen sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Die berufliche Bildung muss ihr eigenes Profil schärfen, indem sie aktuelle Anforderungen aus der Arbeitswelt aufnimmt und dadurch Zukunftschancen für junge Leute eröffnet, damit die Karrierewege für beruflich Gebildete attraktiv bleiben.
Hier sind wir insgesamt ein gutes Stück vorangekommen. Nicht unbedingt mit einer großen umfassenden Idee, sondern mit vielen Initiativen vor Ort, Schritt für Schritt. Die Durchlässigkeit ist in den vergangenen Jahren deutlich erhöht worden. Hierzu gibt es auch internationale Gegenbeispiele. In den Neunzigern wurde in den angelsächsischen Ländern eingeführt, dass alle beruflich Qualifizierten an die Hochschule gehen dürfen. Dabei herausgekommen ist eine formale Durchlässigkeit, die den beruflich Qualifizierten aber in der Realität kaum etwas nützt. Der Weg in Deutschland mit seinen teilweise lokalen Initiativen ist mir lieber. Es tun sich hier in punkto Durchlässigkeit viele Dinge auf. Meiner Meinung nach muss es immer die Möglichkeit geben, Verbindungen mit anderen Bildungswegen herzustellen oder den eigenen Weg ganz anders zu gehen. Die Individualisierung der Lernwege ist Realität. Wenn dann auch die Anforderungen der Arbeitswelt darauf projiziert werden, dann ergibt das keinen eindimensionalen, sondern einen vielfältigen Plan von Wegen, die man einschlagen kann. Das ist meine Zielvorstellung von Durchlässigkeit.
Man muss immer sehen, dass hinter den beiden Systemen in Deutschland sehr unterschiedliche Rationalitäten stecken. Die hochschulische Bildung orientiert sich an wissenschaftlichen Disziplinen. Die Fachsystematik findet sich in Studienplänen und Ordnungen wieder. Die Denkweise der wissenschaftlichen Disziplin spricht für eine Systematik, die sich sehr langfristig entwickelt hat und mit wissenschaftlichen Kenntnissen fundiert wird. In der beruflichen Bildung haben wir eher den Anwendungszusammenhang im Kopf: Hierbei bilden reale Situationen in der Arbeitswelt den Ausgangspunkt der Systematik von relevanten Inhalten. Das ist eine andere Denkweise.
Die Entwicklung in China finde ich spannend. Wir sprechen hier von einem riesigen zentralstaatlichen Bildungssystem, in dem es große regionale Unterschiede gibt. Mit einer kleinen Reform erreicht man sofort Millionen von Menschen. Was sich hier abzeichnet, ist der Trend zur Hochschule: Diese haben Beteiligungsraten, die inzwischen sehr stark an westliche Länder erinnern. Es gibt einen rasanten Zuwachs an Studierenden und Hochschulen. Damit verbunden ist nach 15 Jahren Expansion im Hochschulbereich aber auch die Erkenntnis, dass man nicht alle Bildungswege abdeckt, die die eigene Wirtschaft benötigt. Auch in China entwickelt sich die Wirtschaft hin zu komplexen Produkten und Dienstleistungen. Als Folge dessen ist das Interesse an beruflicher Bildung in den vergangenen fünf bis zehn Jahren deutlich gestiegen. Die Expert/innen in China scheuen sich nicht, nach Deutschland zu schauen. Hier sehen sie ein gewachsenes Ausbildungssystem. Die chinesischen Verantwortlichen hätten gerne unsere Ergebnisse, aber ohne den notwendigen Kontext: Unsere relativ selbstständige Struktur von Kammern als Mittlerfunktion zwischen Wirtschaft, Staat und Auszubildenden ist im politischen Gefüge in China sehr schwierig. Daher geht man in China einen eigenen Weg: Hier entwickeln sich Berufsschulen als Zweige von Universitäten. Eigentlich werden hier häufig klassische handwerkliche Berufe vermittelt, die aber in Bildungsgängen verortet sind, die an Universitäten gelehrt werden.
Ein anderer Aspekt, der mich beschäftigt, ist die Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen, die im Ausland erworben wurden. Im Rahmen der Ankunft vieler Geflüchteter gab es ein großes Interesse Deutschlands daran, Wege zu finden, wie diese anerkannt oder zertifiziert werden können. In der Krise haben wir in diesem Bereich sehr schnell Strukturen und Mechanismen geschaffen. Andere Länder sind hier aber deutlich weiter als wir. Die Niederländer zum Beispiel. Oder die Schweiz. Hier gibt es schon viel länger Erfahrungen mit diesen Verfahren. Von diesen Ländern könnten wir uns inspirieren lassen.
Prof. Dr. Ertl, geboren 1968 in Dingolfing (Bayern), hat nach einer Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann das Abitur über den „zweiten Bildungsweg“ erlangt. Sein Studium der Wirtschaftspädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München schloss er als Diplom-Handelslehrer ab. Auf den Master in international vergleichender Bildungsforschung an der Universität Oxford folgte im Jahr 2001 die Promotion am Institut für Wirtschaftspädagogik an der LMU München. Hieran schloss sich eine dreijährige Forschungs- und Lehrtätigkeit am Department Wirtschaftspädagogik an der Universität Paderborn an.
Von 2004 bis 2017 forschte und lehrte Prof. Dr. Ertl als Associate Professor of Higher Education am Department of Education an der Universität Oxford in England. Dort übernahm er in den Jahren 2014 und 2015 als Junior Proctor auch universitäre Leitungsaufgaben. Während dieser Zeit war Prof. Dr. Ertl zudem Forschungsbeauftragter am Centre on Skills, Knowledge and Occupational Performance (SKOPE) sowie Fellow des Linacre college in Oxford.
Zu den Forschungsschwerpunkten von Prof. Dr. Ertl zählen die Übergänge zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung, die international vergleichende Forschung zur Hochschulbildung, die europäische Bildungs- und Ausbildungspolitik sowie die Einführung und Umsetzung von Bildungsreformen. Seine Expertise ist in zahlreichen Veröffentlichungen, Konferenzbeiträgen, Projekten und Modellversuchen dokumentiert.
Herr Prof. Dr. Ertl ist Herausgeber der Fachzeitschrift „Research in Comparative and International Education“ und Mitherausgeber der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Zudem ist er Fellow der Royal Society of Arts sowie seit November 2018 Honorary Research Fellow of the Department of Education der University of Oxford.
Weitere Fachbeiträge und Best-Practices finden Sie im WorldSkills Germany Magazin, dem Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen.
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Prof. Dr. Hubert Ertl, Stellvetretender Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (Foto: BIBB)
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