"Wir müssen Bildung neu denken"

1. Dezember 2021

Disruption vom Feinsten

Dieser Beitrag erschien in Auszügen im WorldSkills Germany Magazin – Ausgabe 21 (Dezember 2021). Lernen Sie unser Fachmagazin für Talentmanagement, berufliche Wettbewerbe und außerschulisches Lernen kennen >>

Immer wieder fordern Bildungsexpertinnen und -experten einen frischen und innovativen Blick auf die Frage nach guter Bildung. WorldSkills Germany sprach mit Ralph Linde, Leiter der Volkswagen Group Academy, der Dachorganisation für Bildungsaktivitäten des internationalen Mobilitätskonzerns, über den Transformationsprozess in der beruflichen Bildung.

Herr Linde, auf einem Vortrag sprachen Sie kürzlich von einer Disruption in der Bildung. Was verstehen Sie darunter?
Ich glaube, dass Bildung einer der von Disruption am meisten betroffenen Bereiche der Gesellschaft ist. Und das gilt sowohl für die öffentliche Bildung als auch für die Bildung im Unternehmen. Wir kennen in der Weiterbildung oft nur eine Methode für die meisten Qualifizierungsanforderungen: das Seminar.

Wenn Sie zum Beispiel in zwei Wochen ein Gespräch mit Ihrem Chef haben und dafür etwas über Konfliktmanagement wissen wollen, dann wird Ihnen zunächst einmal ein Schulungstermin angeboten. Allerdings oftmals erst in fünf Monaten, weil es dauert, das zu organisieren und die Kurse voll belegt sind. Dann ist das Gespräch mit Ihrem Chef wahrscheinlich längst vorbei und Ihre Motivation, sich durch Lernen darauf vorzubereiten, kaum mehr vorhanden. Sie sitzen also fünf Monate später mit elf anderen Personen mit unterschiedlichen Interessen in einem Seminar und wenn Sie Glück haben, gibt es drei Stunden mit Inhalten, die Sie brauchen. Wir bei Volkswagen versuchen, Bildung schneller wirksam zu machen. Dazu unterteilen wir die Seminarinhalte in kleine Wissensbestandteile, die wir unseren Teilnehmern unmittelbar in digitaler Form zur Verfügung stellen. Natürlich gibt es auch noch Gelegenheit in Präsenz zu üben – ganz gezielt da, wo es notwendig ist und Sinn macht. Bei Volkswagen bauen wir gerade in der Weiterbildung eine neue Lernwelt für die Fachbereiche auf – mit freien Zugängen für die Belegschaft, mit offenem Content von verschiedenen Plattformen, auf denen jeder Anreize findet, eigenständig zu lernen. Die Inhalte verteilen wir auf verschiedene Medien mit interessanter Methodik, von Filmen bis hin zu Micro-Consulting-Angeboten, sodass wir auch unterschiedlichen Bedürfnisse gerecht werden.

 

Was heißt das konkret für die Ausbildung?
Wir müssen den Fokus stärker darauf richten, die Menschen in ihrem Arbeitsalltag zu unterstützen. Dazu braucht es nicht immer einen Pädagogen, um Lerninhalte zu vermitteln. In einem YouTube-Tutorial erlebe ich z. B. auch jemanden, der zwar Experte auf seinem Gebiet ist, der begeistert ist von dem, was er vorträgt und die Inhalte möglichst kreativ und anschaulich vermittelt. Aber in der Regel sind das keine Professoren.
Zusammengefasst bedeutet das: Wir müssen Bildung neu denken. Wir müssen das traditionelle Lehrermodell reformieren und das Lernen in Netzwerken organisieren. Ein Beispiel für neues Lernen ist z. B. die Softwareschule „42 Wolfsburg“, die Volkswagen unterstützt. Dort studieren junge Menschen, manchmal ohne jeglichen Schulabschluss. Im Gegenzug müssen sie anspruchsvolle, mehrwöchige Auswahlverfahren bestehen. Diese werden „piscines“ genannt und bauen anders als in der herkömmlichen Bildung darauf auf, dass man sich gegenseitig hilft. Zugelassen wird nicht etwa nur, wer gut in Softwareentwicklung ist, sondern wer schnelle Fortschritte beim Lösen von logischen Problemen macht. Es gibt an dieser Schule zudem keine Lehrer, kein Klassenzimmer, keinen klassischen Unterricht und keinen Lehrplan. Das Einzige, was die Schüler vorfinden, ist ein riesiges Computerspiel mit 21 Leveln und vielen Projekten, in denen sie in Teamarbeit Programmieraufgaben lösen müssen. Mit diesem spielerischen Ansatz wird eine völlig neue Form von Pädagogik vermittelt und das sehr erfolgreich. So gehören die Absolventen des weltweiten École 42-Netzwerks am Ende ihrer Ausbildung zu den besten Softwareentwicklern, die man auf dem Markt finden kann, mit hervorragenden Aussichten auf eine spätere Anstellung im Softwarebereich. Wir können uns daher an der 42 Wolfsburg kaum vor Bewerbungen retten.

Kalibrierung einer Fertigungsanlage in Teamarbeit im Rahmen der Ausbildung bei Volkswagen. (Foto: Volkswagen AG)

Wie sieht die neue Pädagogik aus?
Sich gegenseitig zu unterstützen, althergebrachtes in Frage zu stellen, außerhalb des Rahmens zu denken und vor allem selbstgesteuert zu lernen, sind Verhaltensweisen, die wir künftig noch viel stärker benötigen werden. Für die Ausbildung sowohl an den Berufsschulen als auch in den Unternehmen heißt das, wir werden viel mehr auf digitale Lernmedien und digitalen Content umstellen, um Wissen unmittelbar bereitzustellen und selbstgesteuertes Lernen zu fördern. Hinzu kommt, dass wir einen ganzheitlichen Ausbildungsansatz verfolgen, der Aspekte wie Umwelt, Nachhaltigkeit und Verantwortung einschließt. Außerdem ermutigen wir in verschiedenen Projekten unsere Auszubildenden dazu, Lernprozesse eigenständig zu organisieren und die Erkenntnisse, die sie beim Lernen machen, in eine Lerneinheit für andere zu übertragen. Die Jugendlichen werden so selber zum Lehrer der nächsten Generation und erstellen eigenes Lernmaterial. Das funktioniert sehr gut.

Braucht es in Zukunft keine Ausbilder mehr?
Natürlich braucht es noch Ausbilder. Ich möchte ungern Hochvolttechnik von Auszubildenden ausprobieren lassen. Wir gehen bei Volkswagen aber dazu über, die Ausbilder als Lernbegleiter zu begreifen.

Auszubildende in Salzgitter erfahren mehr über die Funktionsweise und Steuerung einer Fertigungsanlage. (Foto: Volkswagen AG)

Unser Ziel ist es, die jungen Leute beim Lernen mit ganz viel Eigeninitiative so zu begleiten, dass sie zu einem Punkt kommen, wo sie selbstständiger denken und eigene Entscheidungen treffen können, z. B. welcher Lernstoff für sie gerade der richtige ist. Im Kern geht es also um eine vom konventionellen Unterricht unabhängigere Form des Lernens.

Macht die Digitalisierung Ausbildung besser als früher?
Der große Vorteil der Digitalisierung liegt auf der Hand: Wir müssen Inhalte nur einmal produzieren und können sie sofort und unmittelbar allen Menschen zur Verfügung stellen. So können die Menschen selber entscheiden, was sie wann lernen, weil es immer bereitsteht und der Wissenserwerb nicht davon abhängig ist, ob sie z. B. einen Seminarplatz bekommen haben. Damit einher geht ein erheblich höherer Individualisierungsgrad und die neuen Medien geben uns natürlich auch die Möglichkeit, Inhalte unterhaltsamer zu gestalten. Bei allen Vorteilen brauchen wir aber auch Momente, in denen Menschen zum Lernen zusammenkommen. Ich kann nicht lernen, wie ich eine Schweißnaht ziehe, wenn nicht jemand neben mir steht und ich nicht ein Gerät in der Hand habe und es wirklich tue. Digitalisierung ist kein Ersatz für das Lernen vor Ort mit Menschen, sondern etwas, das Lernen schneller und einfacher macht und uns im besten Fall mehr Zeit für die persönlichen Momente gibt. Ich vergleiche Digitalisierung in der Ausbildung an der Stelle gern mit anderen Bereichen unseres Lebens. Wenn ich z. B. auf mein Leben schaue, dann entwickelt sich der digitalisierte Teil meines Lebens eher zu einem „Standard-“ und der andere Teil zu einem „Premiumerlebnis“. Ganz konkret: Ich bin ein leidenschaftlicher Leser und kaufe gerne Bücher. Meistens mache ich das online, weil das einfach schneller geht und ich leider nicht so oft in einen Buchladen komme. Mein persönliches „Premiumerlebnis“ ist aber der Besuch meiner Lieblingsbuchhandlung in Braunschweig. Beide Welten haben ihre Berechtigung und ihre Vorzüge. Ich glaube, eine ähnliche Entwicklung findet auch in der Bildung statt.

Wie können denn kleine und mittelständische Unternehmen mit der Digitalisierung Schritt halten?
Kleinere Unternehmen machen wahrscheinlich nicht ein eigenes digitalisiertes Programm, weil das unökonomisch wäre. Aber auf dem Markt entwickeln sich zurzeit viele digitale Lernplattformen, an die sie sich anschließen können. Bisher wurden beispielsweise bei vielen international agierenden Unternehmen Inhalte in der Mechatronik, in der Elektronik oder in der Fertigung landesspezifisch vermittelt. Diese Inhalte könnte man aber auch weltweit zur Verfügung stellen. Zudem macht es Sinn, auch in dem Bereich der Ausbildung über die Bündelung von Kompetenzen etwa in einem Ausbildungsverbund nachzudenken. Nach diesem Prinzip agieren bereits viele bekannte Lernplattformen und ich bin überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein wird, bis wir den Content für die meisten Themen über solche Plattformen erwerben können.

War der digitale Wandel in der Berufsausbildung in Deutschland bisher erfolgreich?
Für Volkswagen kann ich das in jedem Fall bejahen. Wir haben in den letzten Jahren alle Berufe einmal grundsätzlich überarbeitet und mit digitalen Inhalten angereichert. Nehmen Sie als Beispiel die Fachkraft für Lagerlogistik. Dieser Beruf hat sich komplett digitalisiert. Außerdem haben wir unsere Berufsstruktur verändert. Wir haben den Anteil der Ausbildung in den Metall-Berufen, wie Industriemechaniker oder Werkzeugmacher, reduziert und dafür die Elektro- und IT-Berufe hochgefahren. Zudem haben wir auch neue Berufe wie den Elektroniker für Informationssysteme, den Fachinformatiker und den Produktionstechnologen eingeführt. Zwei Drittel der Berufe liegen heute bereits im IT- und im Elektro-Segment und nur noch ein knappes Drittel findet sich bei kaufmännischen Berufen und in der Metallverarbeitung. Insgesamt stellen wir fest, dass die Berufsanforderungen – auch an die Metall-Berufe – durchaus höher sind als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Es ist daher wichtig, dass die Schulen die jungen Menschen so qualifizieren, dass der Anschluss an die Berufswelt gewährleistet bleibt. Das gilt besonders in Hinblick auf naturwissenschaftliche Kompetenzen in Fächern wie Physik aber auch um mathematisches Wissen und logisches Denken. In den Auswahlverfahren merken wir zunehmend, dass es bei vielen jungen Menschen in diesen Feldern Defizite gibt.

Wohin geht die Zukunft der beruflichen Bildung und Ausbildung?
Ich bin ein großer Ausbildungsfan und fest davon überzeugt, dass die berufliche Bildung und die Ausbildung eine große Zukunft haben. Die Fähigkeiten und die Kenntnisse, über die unsere Facharbeiter am Ende ihrer Ausbildungszeit verfügen, sind ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Wir müssen allerdings Wege finden, wie wir Anerkennungsverfahren weiter vereinfachen und eine größere Offenheit bei den Abschlussregularien entwickeln. Das wird auch die IHK betreffen. Wir müssen vor allen Dingen schneller werden und dürfen zum Beispiel nicht mehr Jahre brauchen, um einen Ausbildungsberuf zu verändern. Es ist zudem dringend erforderlich, dass wir uns im Bildungsbereich intensiver mit alternativen Lernformen auseinandersetzen. Bildung ist einer der Märkte der Zukunft und inzwischen auch für Kapitalanleger überaus interessant. Andere Teile der Welt werden weiter aufholen, weil sie teilweise einen großen Nachholbedarf haben, aber auch Chancen einfach schneller nutzen. Daher müssen wir alle Hebel in Gang setzen, damit Deutschland bei der Transformation der Bildung weiter Schritt hält und das Thema mit all seinen Facetten und Herausforderungen ganz hoch auf der gesellschafts-politischen Agenda platzieren.

Schon gewusst?
Volkswagen beschäftigt in Deutschland rund 1.400 Auszubildende, die von 260 Ausbildern betreut werden. Das Unternehmen bietet über 50 Ausbildungsberufe an, darunter 18 technische, 11 kaufmännische Berufe und 18 duale Studiengänge.

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Training von Programmiertätigkeiten durch EAT-Auszubildende (Elektronikerinnen für Automatisierungstechnik). (Foto: Volkswagen AG)

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